Rezension zum Buch von Renate Fischer:

Herz IV. Aus dem Alltag einer rechtlichen Betreuerin

Köln, Balance erfahrungen, 2011

 

 

Herz IV, Pik Sieben und das Kreuz mit den Behörden

 

Dieses Buch ist das pralle Leben. Nur eben das pralle Leben, das normalerweise gut versteckt ist.

Renate Fischer holt es mit berührenden, witzigen, skurrilen Geschichten aus ihrem Alltag als Betreuerin ans Licht: „Täglich habe ich mit Menschen zu tun, die ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst regeln können. Psychisch Kranke, geistig Behinderte, altersverwirrte Menschen. Vieles ist kompliziert, mühsam und absurd, aber es sind weniger die Kranken und Behinderten, die an meinen Nerven zerren, als vielmehr ignorante Behördenmitarbeiter, geldgierige Angehörige, herzenskalte Ärzte, schamlose Kredithaie oder die unfassbar irrsinnige Bürokratie im sozialen Bereich.“ Der Titel ist das Ergebnis eines sympathischen Missverständnisses („Ich hab keine Arbeit, ich krieg Herz IV.“), der sich wie ein roter Faden durch die Fallschilderungen zieht: Renate Fischer arbeitet mit ganz viel Herz – mitunter unorthodox und pfiffig!

 

Wir lernen also zum Beispiel Herrn Abel kennen, 72, Apoplexie, mit Hemiparese, deutliche Demenz, Pflegestufe II, Rollstuhl, Altenheim. Herr Karl und Frau Hindrich – beide psychisch krank – wollen heiraten, nicht ohne Hindernisse. Frau Roth, 100 Prozent schwerbehindert, soll 92,13 Euro wegen Schwarzfahrens zahlen. Frau Heimann ist starke Raucherin und im Krankenhaus wenig kooperativ, bis sie, in ihrem Bett liegend, im Schwesternzimmer endlich wieder eine mitrauchen darf.

 

Menschen – Schicksale – Begegnungen. 68 kurze Impressionen – mal zwei, mal fünf Seiten lang – mit Titeln wie „Halbmarathon“ (Herr Gotthus, psychisch schwer gestört und geistig behindert, zeigt mit Stolz die Teilnehmerurkunde vom letztjährigen Halbmarathon.), „Der Tochter-Trick“ (angewandt im Telefongespräch mit einem störrischen Beamten: „Was würden Sie wohl machen, wenn es Ihre Tochter wäre, die nichts mehr zu essen hat?“), „Krankheitsgewinn“ (Frau Reims, eine todgeweihte Krebspatientin freut sich über die Zuwendung des Pflegedienstes, die sie vorher nie erfahren hat) oder „Impulskontrolle“ (der aggressive Herr Akan wendet mit telefonischer Unterstützung die „Ich zähl bis zehn, bevor ich zuschlage-Methode“ an). Und immer wieder Situationen, in denen nicht nur die Autorin wie Pik Sieben dasteht.

 

In dem Kurztext „Berufsberatung: Wie wird man Betreuer?“ stellt Renate Fischer fest: „Es gibt Tage, da habe ich das Gefühl, in einem Topf mit zähem Teer zu stecken, aus dem ich nicht wieder herauskomme. Das ganze gesellschaftliche System der Helfer und Hilfesysteme scheint mir dann absurd und sinnlos.“ Und sie räumt auf mit dem Bild, dass man als Betreuerin ja laufend unmittelbar „mit Menschen zu tun hat“: „Wer nicht frohen Mutes Akten führt und Konten verwaltet, sollte nicht rechtlicher Betreuer werden.“

 

Zum Motiv ihres Tuns und Schreibens sagt sie: „Eine demokratische Gesellschaft sollte man danach beurteilen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Mit den Geschichten in diesem Buch versuche ich, meinen Klienten das entgegenzubringen, was sie fast nötiger brauchen als Geld. Sie alle hungern nach Anerkennung und Respekt.“

 

Immer ist man als Leser gefühlt unmittelbar dabei, steht mit vor verschlossenen Türen, die dann auch schon mal von der Polizei eingetreten werden. Sitzt auf der Sofakante, die vorher von ungezählten Plüschtieren befreit werden musste, fährt mit in einsame Einzimmerwohnungen, Heime oder Hospize und riecht förmlich, welche Düfte Frau Fischer dort entgegenschlagen.

 

Diese authentische Beschreibung entwickelt eine enorme Sogwirkung, und man hört sich in Gedanken sagen: „Die nächste Geschichte schaffe ich noch ...“ Und dann blättert man um, liest, lässt sich von dem nächsten Schicksal fesseln und denkt: „Die nächste Geschichte schaffe ich noch ...“

 

Sonja, eine Praktikantin, die Sozialpädagogin werden will, wird schließlich nach einem gemeinsam absolvierten Hausbesuch von der Autorin gefragt: „Und, schon was gelernt?“

 

Sonjas Antwort: „Ja, man muss auf alles gefasst sein.“ ist ein schönes Synonym für das große Lesevergnügen, das dieses Buch bedeutet. Seien Sie auf alles gefasst, Sie werden das Buch nicht so schnell weglegen können.

 

Hartwig Hansen, Hamburg

 

Erschienen in: Sozial Extra 5/6/2012