Rezension über das Buch von Renate Schernus:

Hausärztin im Kiez – Porträt der Anna B.

Bonn, Edition Balance im Psychiatrie Verlag, 2002

 

Die Lebensbegleiterin

 

Also – zu diesem Buch gibt es eine schlechte und eine gute Nachricht. Welche wollen Sie zuerst hören? Ok, die gute zuerst! Sie lautet: „Ja, es gibt sie noch, die einmaligen Bücher, die, die es bei 90.000 Neuerscheinungen im Jahr wirklich wert sind, weil sie nämlich etwas wirklich Neues zum Thema machen.” Dieses Buch sucht seinesgleichen, es ist ein Original!

Und dabei war eigentlich alles ein Missverständnis. Im Psychiatrie-Verlags-Beirat tauchte irgendwann die Idee auf, etwas psychiatrisches Know-how für Allgemeinärzte herauszubringen. Und Renate Schernus verstand, es solle ein Buch werden unter dem Motto: Was können wir von den Hausärzten lernen, wie man Psychiatrie auch ganz anders machen kann?

Sie dachte sofort an ihre Freundin, die eine hausärztliche Praxis auf unkonventionelle Weise und unter höchstem persönlichen Einsatz führt und die sie in der Folge zu diesem Buch mehrfach interviewte.

Herausgekommen ist etwas ebenso Unkonventionelles: In 27 kurzen Kapiteln gelingt es Renate Schernus durch die Kunst des Direkten und des Indirekten, den äußerst bunten und mitunter nervigen Alltag in einer wirklich „gemeindenahen und niedrigschwelligen Kiezarztpraxis” lebendig werden zu lassen, in die vierteljährlich ca. 1.300 Menschen aus 45 Nationen kommen.

„Ich kann schon an der Art des Ein- und Ausatmens feststellen, wo die Leute herkommen”, sagt Arma B. „Ich hatte zum Beispiel mal jemanden aus Grönland, der atmete ganz langsam. Am schnellsten atmen die Südtürken aus Antalya.”

Anna B. ist Beziehungskünstlerin und meint an einer anderen Stelle von sich selbst: „Vielleicht bin ich auch beziehungsgestört.” — weil sich so viele (vor allem substituierte) Patientinnen und Patienten von ihr abhängig zu machen scheinen.

Sie steht im Zentrum ihrer Praxis und ihre äußerst pfiffigen und doch so einleuchtenden Ideen im Zentrum des Buches: Sie „verkuppelt” Menschen, die Hilfe brauchen, und kreiert den „Beruf” des Situationsbegleiters.

Sie sagt: „Die schwierigsten Patienten sind die vielen Depressiven. Das hängt eindeutig mit der Arbeitslosigkeit zusammen. Von den Menschen, die in meine Praxis kommen, haben höchstens noch 30% eine Arbeit oder beziehen Rente. Und mindestens die Hälfte von denen ohne Arbeit leidet an Depressionen.”

Und sie betreut Drogenpatienten, die oft lebenslang substituiert werden müssen.

So liegt es nahe, einen von ihnen zu bitten, zu ihrer Entlastung einmal zu einer alten Frau zu schauen, um der etwas einzukaufen oder die Medikamente zu holen.

„Und wenn ich einen Drogenabhängigen habe, der sonst sehr unzuverlässig ist, wird er plötzlich ganz zuverlässig, wenn da ein Mensch ist, von dem er genau weiß, der braucht mich, der wartet auf mich.”

Anna B. hat viele Ideen. „Ich überlege immer, was macht man mit der Unruhe, unter der fast alle leiden?” Und manchmal hilft sie aus ihrem „Privat-Fonds für spezielle Maßnahmen” ein bisschen nach bei der Beziehungsstiftung.

Wie das alles konkret abläuft, sollten Sie selbst nachlesen. Es lohnt sich!

Dann erfahren Sie auch, warum Anna B. einmal mit vier Hunde zu vier verschiedenen Weihnachtsgottesdiensten ging. Oder wie sie ihre spätere Sprechstundenhilfe bei einem besonderen Hausbesuch kennenlernte. Oder was sie über die Möglichkeiten und Defizite der Pflegedienste und des Gesundheitssystems zu sagen hat, den „es kann nicht richtig sein, dass das ganze System vom Ökonomischen her so aufgebaut ist, dass die Patienten, je kränker sie sind, umso unattraktiver für Ärzte werden."

Anna B. erzählt mitreißend und gleichzeitig bescheiden – von sich, ihrem Leben und den vielen Menschen, die sie in ihr Herz geschlossen hat: „Eigentlich ist es ein toller Beruf, so was wie ein Lebensbegleiter ..."

Und Renate Schernus schreibt mit leichter Hand und erheblicher Sogwirkung.

Deshalb zum Schluss doch noch die schlechte Nachricht. Sie ist deprimierend und lautet: „Dieses Buch ist beim Lesen einfach viel zu schnell zu Ende ..."

Hartwig Hansen, Hamburg

 

Erschienen in: Psychosoziale Umschau, 18. Jg, 1/2003, S. 52/53