Die Kaninchenfalle


Die siebente Sitzung. Freitag früh noch “vor der Arbeit”– der einzige Termin, den wir finden konnten. Ein verregneter Spätsommermorgen.
Herr F. und Frau B. leben in “eigenen” Wohnungen und versorgen wechselweise ihren gemeinsamen vierjährigen Sohn Dennis, den sie gerade zum Kindergarten gebracht haben.
Ihr Leben ist – sagen wir’s neudeutsch – ziemlicher Stress. Herr F. hat als Selbständiger vier Jobs, Frau B. steht in den Examensprüfungen und hat noch eine Halbtagsstelle in der Behörde.
Wie kriegt man das alles geregelt und verliert dabei “die Beziehung” nicht aus den Augen?
In der letzten Sitzung hatten wir die “wortlosen fünf Minuten” als Hausaufgabe vorgeschlagen: Fünf Minuten in den Arm nehmen und nicht über Termine, Abstimmungsfragen und Erziehung reden. Und das vielleicht alle zwei Tage!?
“Das war ja eine gute Idee”, beginnt Frau B., “aber es hat bis auf zwei, drei Anläufe nicht so richtig geklappt.”
Meine Kollegin fragt nach. Ja, die zwei, drei Momente seien schon schön gewesen, sagt Frau B.
Auch Herr F. nickt. Dann ergänzt er: “Aber wir haben eigentlich die ganze Zeit über die Kaninchen gestritten.”
Jetzt werden die bedröppelten Gesichter der beiden verständlich. Statt Entspannung neue Aufregung ...
“Es ist nämlich so”, erklärt Frau B. “Unsere Nachbarn haben zwei Hasen, und Dennis will auch schon ganz lange welche. Und weil ich in drei Wochen wieder eine Prüfung hab, dachte ich: Jetzt noch schnell zwei Kaninchen aus dem Heim besorgt und den Stall aufgebaut und alles vorbereitet.”
“Und ich?”, unterbricht Herr F. “Ich war damit überhaupt nicht einverstanden.” Er rauft sich die Haare, dass sie zu Berge stehen. “Das hätten wir alles auch noch später machen können. Und dass du es wegen deiner Prüfung durchziehen wolltest, hast du gar nicht gesagt.”
“Doch, hab ich. Außerdem: In den Büchern zur Tierpflege steht doch drin, dass man das Nest schon vorbereitet haben soll, wenn man die Kleinen abholt.” 

“Lass mich bloß in Ruhe mit deinen Büchern. Und das mit dem Nest hast du bei Dennis ja auch gesagt damals”, kontert Herr F. und fuchtelt mit dem Zeigefinger. Wir lachen gemeinsam.
Offenbar gehen Männer und Frauen unterschiedlich an die Brutpflege heran ...
“Ich muss noch mal was fragen”, nehme ich den Faden wieder auf. “Wo steht denn nun eigentlich der Kaninchenstall?”
“In meinem Garten”, lacht Herr F. mit einem triumphierenden Zug um den Mund.
“Soll das heißen, dass du sie gar nicht haben willst und ich sie jetzt auf meinen Balkon stellen soll, oder was? Willst du mir das sagen?” Nun ist Frau B. sichtlich aufgebracht, aber irgendwie wirkt sie auch traurig.

Aha, so sieht sie also aus, die Kaninchenfalle der siebten Sitzung.
 Vorsicht – “Wegregeltendenzen” im Alltagsstress! Gefühle und der Austausch darüber haben keinen Platz mehr und Dampfwalzenenscheidungen legen eher neue Tretminen.
Dabei würden die beiden sicher zu gerne wieder mehr zusammenkommen ... Nur wie soll das gehen, wenn immer was zu managen ist?
Also langsam! Alle Kaninchen zurück! Was ist eigentlich passiert?
Wir fassen zusammen: Dennis wünscht sich einen Hasen, Frau B. eigentlich auch (“Die haben soo süße Augen!”), Herr F. geht die Eroberung seines Stadtgartens deutlich zu schnell: “Ich mag das nicht, wenn du irgendwas einfach machst und mir nicht zuhörst!”
Wir versuchen den gemeinsame Blick in den Rückspiegel – das Ergebnis ist wieder mal interessant und hilfreich:
Herr F. ist nämlich der Jüngste in einer langen Reihe von Geschwistern (“Ich hasse es, wenn man über mich bestimmt ...!”) und Frau B. ist als Ältere mit einer behinderten Schwester aufgewachsen: “Wenn die Eltern nicht da waren, musste ich oft einfach entscheiden, wie es gemacht werden sollte ...”
Da liegen also die Kaninchen im alt bekannten Gefühlspfeffer.
“Und wenn ich mich dann so überfahren fühle, siehst du gar nicht, wie anstrengend es für mich ist, wieder auf dich zuzugehen”, klagt Herr F. und seine Augen werden ein bisschen feucht.
Die beiden schauen sich lange ruhig an. Ein nachdenklicher Moment. Gut!
Dann sagt Herr F. ruhig: “Für mich ist das nämlich so, dass ich immer erst mal selbst wieder zu mir zurückfinden muss, um neuen Kontakt zu dir aufnehmen zu können. Und du willst dann immer alles schon gleich wieder ausdiskutieren und laberst mich zu.”
Mit unterschiedlichen Worten und Bildern versuchen meine Kollegin und ich, ein weiteres Mal deutlich zu machen, dass Männer und Frauen eben unterschiedlich “ticken”: Frauen brauchen offenbar das Gespräch, um wieder “zusammenzukommen”, um sich nahe zu fühlen, Männer brauchen wohl mitunter den vorläufigen Rückzug, der Frauen wiederum in die Panik versetzt, die Beziehung könnte ganz abreißen.
Frau B. nickt zustimmend – und nach einer Pause: “Ja, ich könnte dich ja auch in Ruhe lassen, wenn ich wüsste, dass du irgendwann wieder das Gespräch aufnimmst ...”
Beide schauen sich an und denken nach. Dann sagt Herr B.: “Wenn ich erst mal ein paar Minuten für mich sein kann, sag ich auch Bescheid, wenn ich wieder für ein Uns bereit bin. So können wir es machen.”
“Aber nicht vorher einschlafen!”, stichelt Frau B. – und wir lachen wieder gemeinsam.
Nach ein paar wortlosen Momenten rückt Herr F. seinen Stuhl neben den seiner Partnerin und nimmt ihre Hand.
Wir gratulieren dem Paar zu ihrem Ausbruch aus der Kaninchenfalle: “Vielleicht sind es ja diese Momente wie jetzt, die den Alltagsstress leichter machen.”

Nach der Sitzung sehen wir das Paar eng umschlungen auf dem Gehweg stehen – vorgezogene Hausaufgaben machen. Wir können nicht erkennen, ob sie über den Umzug des Kaninchenstalls sprechen.

© Hartwig Hansen

 

Erschienen in: systhema – Meinungen, Austausch, Diskussion,

Hrsg.: Institut für Familientherapie e.V. Weinheim,  3/2004