Negatives Reframing

 

 

"Wir sind heute zu Ihnen gekommen, weil mir meine Frau am Sonntag gestanden hat, dass sie vor zehn Jahren eine Affäre hatte, von der ich bisher nichts wusste", sagt Herr R. sichtlich niedergeschlagen, als wir uns zur ersten Sitzung der Paarberatung gegenübersitzen. "Und diese Nebenbeziehung soll sogar über ein Jahr gedauert haben ... Ich bin wirklich fix und fertig mit der Welt."

"Das war doch der Grund, warum ich es dir so lange nicht sagen konnte. Ich hatte Riesenangst, dass du mich dann verlassen würdest und alles in Scherben liegt", erwidert seine Frau und wirkt dabei ebenfalls verzweifelt. Sie schaut ihren Mann an und sagt: "Ich bin dir so dankbar, Thomas, dass du vorgeschlagen hast, eine Paartherapie zu machen. Es tut mir alles wahnsinnig leid. Ich wollte dich nicht verletzen."

So weit – so dramatisch. Erst mal tief durchatmen!

 

Heute will ich nicht erzählen, wie es weitergegangen ist in dieser Beratung, sondern davon, worüber ich nach der Sitzung – wieder mal – nachgedacht habe.

Das hat mit dem Begriff bzw. der bewährten Standard-Intervention im systemischen Feld, nämlich dem Reframing, zu tun. Landläufig sind wir als Beratende ja regelmäßig bemüht, einen neuen, eher postiv-wertschätzenden Rahmen für ein negativ und/oder defizitär erlebtes Ereignis oder Verhalten zu finden und den Ratsuchenden anzubieten. Also – platt gesagt – weg vom "halb leeren Glas" hin zum "halb vollen".

Super Sache, oft mit erstaunlicher Wirkung angewandt.

Am Abend nach der Sitzung biss ich mich gedanklich an der Frage fest: Gibt es eigentlich auch so etwas wie ein negatives Reframing? Wird so ein Begriff in der Literatur beschrieben oder in der Fachwelt diskutiert?

Beim Googeln wurde ich nicht recht fündig. Da wird unter dem Suchbegriff "negatives Reframing" lediglich eine Methode beschrieben, die den Klienten durch skeptische Äußerungen ("Sind Sie sicher, dass Sie Ihr neues Verhalten auch durchhalten?") im Geiste der Provokativen Therapie zum Wechsel auf die selbstbewusste, zuversichtliche Seite bringen soll: "Ja sicher, warum denn nicht? Das schaffe ich schon!"

Kann man machen, ich mag so ein "tricky" Vorgehen nicht wirklich.Ich meine mit "negativem Reframing" eher das oben beschriebene Ereignis: Meine Frau gesteht mir unter Tränen, vor zehn Jahren anhaltend fremdgegangen zu sein. Was macht das mit meinem Blick auf meine Frau und auf die letzten zehn Jahre unserer Ehe?

Wird mit diesem Geständnis nicht in beschriebener dramatischer Weise ein neuer Rahmen gesetzt, der sich nun – automatisch und ungewollt – vor der vergangenen gemeinsamen Lebenphase aufbaut? Und tauchen in diesem Rahmen nicht sehr schmerzhafte Fragen auf: Habe ich mich so getäuscht in dem Menschen an meiner Seite? Was habe ich übersehen? Wollte ich vielleicht gar nicht wirklich hinschauen? Warum war ich es nicht wert, dass sie mir ehrlich sagt, wenn etwas nicht stimmt in unserer Beziehung? Was hatte er, was ich nicht habe? Wie konnte sie so lange neben mir leben mit so einer Lebenslüge? etc. etc. etc.

Die Vergangenheit erscheint in einem anderen, neuen, fragwürdigen Licht, bekommt einen eher ernüchternden, tief verunsichernden Rahmen – und das von einem Moment auf den anderen und mit einer brisanten, verwirrenden Dynamik.

So stelle ich mir ein negatives Reframing vor. Hat jemand schon von einer ähnlichen Idee gehört?

 

 Ein anderes Beispiel: der Dieselskandal. Dass die Herstellerangaben zu den Verbrauchs- und Abgaswerten meines Autos durch trickreiche Messtechniken für die Hochglanzprospekte runterreguliert werden, ahnte bzw. wusste man ja schon irgendwie. Aber dann kam eine Nachricht, die alles "vorher" in den Schatten stellte: Sollte es wirklich wahr sein, dass ein großer Autokonzern – und er blieb nicht der einzige! – bewusst und systematisch eine Tricksoftware in ihre Fahrzeuge verbaut, um die vorgeschriebenen Grenzwerte nicht zu überschreiten? Wer hat sich so etwas ausgedacht, wer hat das "heimlich" entschieden und angeordnet: "Ja, das machen wir so, wird schon keiner merken, wir sind schlau genug."

Was passiert in so einem Moment mit dem vermeintlich guten Ruf dieser Automarke? Was passiert rückwirkend mit dem Glauben an Fairness und staatliche Kontrolle? Erscheint nicht auch dabei alles auf einmal in einem neuen Scheinwerfer im Aufblendmodus?

Kurz: Ein Ereignis, eine Nachricht verändert die Sichtweise auf das, an was man sich vorher orientiert und festgehalten hat.

 

Oder neulich in der Supervision beim engagierten Team eines Jugendhilfeträgers: "Es ist mir total unangenehm und ich habe schlaflose Nächte damit verbracht, ob ich es überhaupt in dieser Runde sagen soll, aber ich kann es auch nicht mehr alleine mit mir rumtragen. Ich habe festgestellt, dass in der letzten Zeit regelmäßig Geld aus der Handkasse verschwunden ist." Die kassenzuständige Verwaltungskraft wirkt verzagt und gleichzeitig entschlossen, es jetzt auf den Tisch zu bringen. "Erst habe ich an mir selbst gezweifelt und immer wieder nachgerechnet. Aber es gibt keine andere Erklärung, es fehlen immer wieder große Scheine."

Was passiert in einem solchen Moment? Alle Gehirne in der Runde scannen die letzten Wochen ab: Wer war wann im Büro? Wer hat einen Schlüssel für den Kassenschrank und die Kasse selbst? Und: Wem würde ich so etwas überhaupt zutrauen? Wer ist vielleicht aktuell in so großer Not, dass er oder sie sich verleiten ließe? Das kann doch alles nicht wahr sein! Ich habe doch ehrliche, seriöse Kolleginnen und Kollegen – oder etwa doch nicht?

Was macht so eine Nachricht mit der Teamdynamik? Wie wird die zurückliegende Zeit umgedeutet unter dem Eindruck der Botschaft: Wir haben "einen Judas" unter uns. Gibt es nicht doch (hoffentlich) eine plausible andere Erklärung für das Kassendefizit?

All das passiert in Sekundenschnelle im Sinne der Idee eines "negativen Reframings" der Vergangenheit.

 

Ich erzähle auf einem Spaziergang meiner Frau von dieser Begriffsidee und frage sie, ob ihr auch noch Beispiele aus ihrem Job als Sozialpädagogin einfallen. Nach ein paar Schritten der stillen Überlegung sagt sie: "Meinst du so eine Situation, wenn man jahrelang Tür an Tür mit 'der netten Familie von nebenan' gelebt hat und eines Tages steht die Polizei vor der Tür und verhaftet den Vater, weil er seine Tochter sexuell missbraucht haben soll? – Da gehen ja die Gedanken auch sofort zurück zu Fragen wie: Was ist da passiert? Kann das wirklich angehen? Hätte ich wachsamer sein müssen? Was für einen Eindruck hat denn die kleine Marie auf mich gemacht? Habe ich mögliche Warnsignale übersehen? Wie kann man sich in einem 'immer höflichen Nachbarn' so täuschen? usw."

Und wir reden weiter und stellen fest, dass dieses spezielle Reframing – durch eine Nachricht wird alles, was vorher (sicher) war, verdreht und neu gerahmt – in der Regel etwas mit Vertrauensverlust zu tun hat, mit dem Abhandenkommen von vorheriger vermeintlicher Sicherheit.

Auf einmal ist die Wahrheit doch eine ganz andere und alles, was vergangen ist, liegt in einem neuen, eher diffusen, nicht positiven Licht.

Um beim Thema Missbrauch zu bleiben: Hatte man nicht jahr(hundert)elang gedacht: Für eine christlich-ehrenwerte Erziehung sind unsere Kinder gut in kirchlichen Einrichtungen aufgehoben. Die, die sich dort engagieren, sind "gute Menschen". Sie leben nach den Leitlinien der Nächstenliebe und wollen unsere Kinder so fördern, dass aus ihnen ebenfalls "gute Menschen" werden. Weit gefehlt! Aktuelle Nachrichten reframen diesen Glauben in diametral entgegengesetzte Richtung: Je höher die kirchlichen Würdenträger, desto empörender die Mittäterschaft und der Hang zum fortgesetzten Verschleiern der Missbrauchs-Missstände, bis hin zu Schweigegeld-Angeboten an diejenigen, die die Missbrauchsfälle untersuchen sollen.

 

Gibt es also neben dem bekannten, therapeutisch, in bester Absicht eingesetzten Motiv der positiven Umdeutung auch den umgekehrten Fall, bei dem ein Wort, eine Information, eine Nachricht das vorher Angenommene fundamental negativ verändert?

Wie gesagt: Ist nur so eine Idee.

Fallen Ihnen andere Beispiele aus dem Leben und der Beratung dazu ein?

Ich freue mich über Rückmeldungen.

 

 

 

© Hartwig Hansen

 

Erschienen in der Zeitschrift für systemisches Therapie und Beratung  2/2020