Verlassen oder verlassen?

"Eigentlich läuft es ganz gut in der letzten Zeit, wir streiten schon viel weniger. Aber am Wochenende hat es wieder so richtig geknallt zwischen uns", eröffnet Frau G. unsere mittlerweile fünfte gemeinsame Sitzung.
Für heute hatten wir verabredet, das Genogramm von Frau G.s Herkunftsfamilie zu erstellen.
"Im Grunde war es auch wieder eine absolute Lappalie und nicht der Rede wert ..."
Bei so einer Eröffnung ist es offenbar doch der Rede wert, denke ich bei mir und frage: "Worum ging es denn genau?"
Frau G. schaut zu ihrem Partner und vergewissert sich: "Soll ich das jetzt hier wirklich erzählen?"
Herr R. zuckt mit den Schultern und sagt leise: "Mach ruhig. Wenn du meinst, dass es was bringt ..."
Herr R. bleibt der Skeptische von beiden. Nach dem Ende der letzten Sitzung, in der wir seine Familie am Flipchart skizziert hatten, lautete sein nüchternes Resümee: "Nun haben wir viel Geld dafür bezahlt, dass Sie uns einen Stammbaum meiner Familie aufgemalt haben. Mir ist der Zusammenhang zu unseren Streits nicht klargeworden."
Von dem letzten berichtet jetzt seine Partnerin: "Es ging um meine kleine Standuhr: Die hatte ich vor ein paar Jahren auf einem Flohmarkt entdeckt und mich in sie verliebt. Sie ging aber nicht mehr. Rainer hat sie mir gekauft und gesagt: 'Die lass ich für dich reparieren.' – So weit, so lieb. Er hat sie aber ewig nicht zur Reparatur gebracht und ich habe bei mir gedacht: Irgendwann wird er sein Versprechen ja wohl einhalten. Pustekuchen. Und immer wenn ich ihn darauf ansprach, redete er drumrum: 'Ich mach das noch, drängel mich doch nicht so'."
Herr R. sitzt scheinbar ruhig da und schaut auf den Boden vor seinem Sessel.
"Und vor vier, fünf Wochen habe ich zu Rainer gesagt: 'Lass uns jetzt zusammen zum Uhrmacher fahren, ich bin so gespannt, ob er die Uhr noch zum Laufen kriegt. Wohlgemerkt waren schon ein paar Jahre vergangen ... Was passiert dann? Wieder nichts. Rainer wollte die Uhr abholen, hat es aber auch immer wieder aufgeschoben und mich vertröstet. Letzte Woche endlich sind wir wieder zusammen hin und haben sie abgeholt. Ehrlich gesagt konnte ich mich gar nicht so richtig darüber freuen, dass sie jetzt wirklich läuft ..."
"Und worüber sind Sie dann am Sonntag aneinandergeraten?", frage ich nach.
"Jutta geht es immer nicht schnell genug. Und ich hab gesagt: 'Nun ist sie doch da, ist doch alles gut.'"
"Du verstehst es immer noch nicht", empört sich Frau G. "Nicht schnell genug ist ne Frechheit, das hat Jahre gedauert! Du hast es mir damals versprochen, dass du sie reparieren lässt."
"Und als es nun endlich geklappt hat, drückst du mir den Spruch: 'Na, dann kann man ja noch hoffen.' Völlig unnötig und voll ironisch!"
Ich denke an die letzte Sitzung mit der vermeintlich überflüssigen Genogramm-Arbeit zur Familie von Herrn R. zurück. War da nicht deutlich geworden, dass der Vater von Herrn R. in der Ehe den Anspruch vertritt, dass 'der Mann den Ton angibt'? Und hatte Herr R. bei der Betrachtung der Beziehung seiner Eltern nicht selbst formuliert: 'Mein Vater übergeht die Gefühle meiner Mutter wirklich zu oft'? Sollte sich das Muster gerade wiederholen?
Ich behalte es im Hinterkopf auf "Wiedervorlage" und sage stattdessen, um zu unserer Verabredung zu kommen: "Interessiert Sie eigentlich auch, wie es in der Herkunftsfamilie von Jutta aussieht?"
"Sicher", sagt Herr R. knapp, offenbar froh, nicht weitere Klagen seiner Partnerin anhören zu müssen.
Frau G. kramt in ihrer Handtasche und faltet ein Blatt mit ihren Aufzeichnungen zur Familie auseinander. "Ich hatte ja letztes Mal schon gesagt: Das wird kompliziert."
Und Frau G. hat recht: Ihr Vater hat sieben Geschwister und ist der Zweitjüngste in der Reihe, seine Mutter hat als Älteste noch drei jüngere Brüder. Das 'Komplizierte' sind zudem die vielfältigen Ehen, Beziehungen und Kinder der Eltern.
"Ich habe einen fünf Jahre älteren Bruder, das ist aber nur mein Halbbruder, weil er aus der ersten Ehe meiner Mutter stammt. Mein Vater hatte schon zwei fast erwachsene Kinder aus erster Ehe, die ich kaum miterlebt habe. Als ich vier war, hatten meine Eltern wochenlang Streit und schlechte Laune, weil meine Mutter fremdgegangen war. Daraufhin hat mein Vater meine Mutter verstoßen und sich ein Jahr später scheiden lassen. Meinen Halbbruder hatte Vater adoptiert und wir hatten, bis ich achtzehn war, keinen Kontakt zu meiner Mutter. Dann hatte mein Vater eine neue Frau, die für mich so etwas wie eine neue Mutter wurde. Aber auch diese Ehe ging auseinander und sie bekam mit einem neuen Partner ein 'eigenes Kind'. Ich weiß noch wie heute, wie sie mir damals sagte: 'Du musst das verstehen, Jutta. Ich muss mich jetzt mehr um die kleine Marie kümmern, ich hab mich doch so lange auf ein eigenes Kind gefreut.' Da war ich ungefähr dreizehn und für mich war das ein absoluter Schlag in die Magengrube."
Während Frau G. erzählt und meine Nachfragen beantwortet, versuche ich das komplexe Familienbild im Genogramm zu vervollständigen.
Jetzt wende ich mich an Herrn R.: "Wie finden Sie das, was wir jetzt hier zusammengestellt haben?"
"Das kannte ich schon weitgehend. Jutta hat ja schon einiges erzählt, wir reden durchaus über unsere Familien."
Ich setze nach: "Lässt sich vielleicht irgendein Zusammenhang zwischen dem gerade Gehörten, dem Bild hier am Flipchart und dem Streit, von dem Sie eingangs berichtet haben, erkennen?"
"Keine Ahnung, sagen Sie's uns", bleibt Herr R. wortkarg und skeptisch, ob er vielleicht wieder viel Geld umsonst bezahlen muss.
"Ich habe gerade gedacht, ob man über dieses Familienbild und dem, wie Jutta aufgewachsen ist, die Überschrift schreiben könnte: Auf wen und auf was kann ich mich wirklich verlassen?"
Ich mache eine Pause und schaue zwischen Herrn R. und Frau G. hin und her.
"Soll ich es mal aufschreiben?", frage ich schließlich.
"Ja", sagt Frau G. und wirkt nachdenklich. "So habe ich das noch nie gesehen. Ich habe schon gewusst, dass ich ein Thema in meiner Geschichte habe mit dem 'Verlassen werden'. Das habe ich ja auch schon mit meiner Therapeutin erarbeitet. Aber Sie haben das eben noch mal anders gesagt – und verlassen werden und sich auf etwas verlassen können ist ja zweierlei, obwohl es das gleiche Wort ist."
"Aus Ihrer Sicht wäre es also nicht abwegig, über einen Zusammenhang zwischen dem Gefühl der kleinen Jutta und dem Gefühl der großen Jutta nachzudenken, wenn sie jahrelang darauf wartet, dass ihr Partner ein Versprechen einlöst?"
"Nee, das ist auf keinen Fall abwegig."
Ich nehme den Faden zum Genogramm noch einmal auf: "Wenn ich es richtig verstanden habe, entschied sich Ihre Mutter nach der Trennung von Ihrem Vater für einen neuen Partner und brach den Kontakt – wohl auf Drängen Ihres Vater – zu Ihnen komplett ab. Das soll man als kleines Mädchen ja erst mal verstehen ... Dann fühlten Sie sich wohl und unterstützt bei seiner neuen Frau, die zu Ihrer zweiten Mutter wurde. Ein zweiter Versuch ... Die wiederum bekam dann später mit einem neuen Mann ein eigenes Kind und Sie fühlten sich in Ihrer Pubertät erneut verlassen und dachten zudem: Wer und was ist denn eigentlich verlässlich? Kann es sein, dass die Frage der Verlässlichkeit seitdem zu einer inneren Prüfung für Ihre jeweiligen Partner geworden ist?"
Bevor Frau G. antworten kann, schaut Herr R. sie breit grinsend an und lacht: "Auf keinen Fall!"
Ironie scheint eine gemeinsame Sprache zwischen den beiden zu sein.
Zum Glück lacht Frau G. ebenfalls. Das ist wohl die einvernehmliche Antwort auf meine Frage.
Nach einer Pause, in der sich die Spannung etwas auflöst, sagt Frau G.: "Es ist schon erstaunlich. Ich denke gerade noch über etwas anderes nach: Ich hatte doch schon davon erzählt, dass Rainer mir mal einen Heiratsantrag gemacht hat, den er dann aber wieder zurückgezogen hat."
"Da war ich besoffen, Jutta", wirft Herr R. ein und macht es damit nicht wirklich besser.
"Ich weiß, Rainer, da warst du besoffen. Toll! Und ich warte und warte, ob du mich dann auch mal im nüchternen Zustand fragst."
"Wussten Sie das?", wende ich mich an Herr R.
"Ja, sicher", antwortet der trocken.
"Wenn Rainer nicht fragt, könnten Sie ihn vielleicht fragen, ob er Sie heiraten will?", versuche ich Frau G. eine Vorlage zu verschaffen.
"Hab ich ja schon gemacht", sagt sie kleinlaut.
"Das war kein Antrag, Jutta, das war ein Vorschlag."
Mir fällt meine gedankliche Wiedervorlage zur Herkunftsfamilie von Herrn R. wieder ein: "Hatten Sie nicht erzählt: 'Mein Vater sagt immer: In der Ehe muss der Mann den Ton angeben'? – Dann muss der ja auch den Antrag machen ..."
"Ja, genau", sagt Herr R. und grinst mit einer Mischung aus Unsicherheit und Sich-bestätigt-Fühlen.

Als sollte es so sein, stolpere ich ein paar Tage nach dieser Sitzung über einen Comic: Am linken Bildrand liest die Frau eine große To-do-Liste am Kleiderschrank im Schlafzimmer vor und hat mit einem roten Stift schon 'Auto zum TÜV, Yoga anmelden, Flug buchen, Katze impfen' abgehakt. Unter den offenen Punkten 'Rad flicken' und 'Oma Geburtstag' stehen noch zwei Buchstaben und die Frau fragt ihren Mann, der im Bett ein Buch liest: "Was heißt denn HA?" Der Mann schaut nicht auf und antwortet lakonisch: "Heiratsantrag!"

Ich überlege, wie Frau G. diesen Comic wohl finden würde. Und Herr R. erst?

© Hartwig Hansen

 

Erschienen in der Zeitschrift für systemische Therapie und Beratung  1/2021