"Bitte hört uns zu!"
Erfahrungen von Menschen, die Stimmen hören (können)

Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie führen ein Alltagsgespräch mit einem Ihnen seit Langem bekannten Menschen. Neben Ihnen sitzt eine weitere Person und flüstert Ihnen fortlaufend irritierende und auch verletzende Sätze ins Ohr, wie zum Beispiel "Du hast doch keine Ahnung, so dumm wie du bist." oder "Du bekommst deine Strafe. Sieh dich vor! Du bist an allem schuld!"
Sie versuchen, das Gespräch trotzdem fortzuführen. Das ist jedoch enorm schwierig. Sie fühlen sich abgelenkt, konfus und auch besorgt. Sie haben das Empfinden, die Kontrolle über Denken und Sprechen zu verlieren, werden fahrig und sprunghaft, ängstlich und ärgerlich. Was soll das alles?!
Der britische Stimmenhörer-Selbsthilfe-Aktivist Ron Coleman (www.roncolemanvoices.co.uk) schlug dieses Experiment – eine dritte Person stört einen "normalen" Dialog – seinen Seminarteilnehmern vor, um das Erleben des Stimmenhörens unmittelbar nachvollziehbar zu machen.
Nun stellen wir uns vor, wie es weitergehen könnte. Sie denken sich: Was für eine verstörende Erfahrung?! Soll ich meinem Gesprächspartner davon berichten oder hält der mich dann für verrückt? Sie entscheiden sich dafür, es vorläufig für sich zu behalten, und wenden sich ein paar Tage später an einen Spezialisten. Der hört Ihnen – im besten Falle – zu und weist Sie in freundlich-gesetzten Worten darauf hin, dass Ihre Stimme ein Zeichen für eine mehr oder weniger schwerwiegende Erkrankung ist. Der Spezialist macht Ihnen den Vorschlag, die Stimme (oder sind es mehrere?) mithilfe von Medikamenten wegzumachen. Mittlerweile – Sie haben in den letzten Tagen keine Ruhe mehr gefunden – sind Sie froh über diesen Vorschlag und lassen sich darauf ein.
Das ist wiederum ein "normales" Szenario: Wer Stimmen hört – so die Lehrmeinung –, muss behandelt werden. Im Zweifel in der Psychiatrie und mit Psychopharmaka, mit denen die Stimmen mal verschwinden, mal bleiben und mitunter auch schlimmer werden können. Und dann?
Der oben zitierte Ron Coleman hat jahrelange Psychiatrieerfahrung gesammelt und erzählt von seinem "Wendepunkt-Erlebnis", als er – zuerst widerwillig – zum Treffen des Stimmenhörernetzwerks in Manchester geht. "Das Erste, was mir dort erzählt wurde, war: Deine Stimmen sind eine Realität, denn du hörst sie. Das war das allererste Mal, dass mich jemand ermutigt hat, auf meine Stimmen zu hören. Alle anderen haben gesagt: 'Vergiss es, hör nicht hin, es sind Halluzinationen.' Das war ein echter Wendepunkt. Mir wurde zugestanden, meine Erfahrung als zu mir gehörig zu betrachten. Ich konnte zum ersten Mal über die Stimmen reden, ohne dass sie als Teil einer Krankheit gesehen wurden. Sie wurden als Teile von mir verstanden, als Folge der Ereignisse in meiner Lebensgeschichte."
Um diese Zusammenhänge zwischen dem Phänomen Stimmenhören und der individuellen Lebensgeschichte besser nachvollziehbar, vielleicht verstehbar zu machen, startete der Paranus Verlag zusammen mit dem Berliner Netzwerk Stimmenhören einen Aufruf, über die gemachten Erfahrungen zu berichten. Eine Leitfrage dabei war: "Was wollen mir meine Stimmen sagen?"
Dieser Beitrag versucht, die Vielfalt der Antworten in dem schließlich 2015 erschienenen Buch "Höllenqual oder Himmelsgabe?" (Hartwig Hansen (Hg.): Höllenqual oder Himmelsgabe? – Erfahrungen von Stimmen hörenden Menschen. Neumünster, Paranus Verlag, 2015) zusammenzufassen.

 


Zwischen den Polen
Die meisten Menschen, die die Erfahrung des Stimmenhörens gemacht haben, werden sagen: "Ja, Höllenqual und Himmelsgeschenk – das sind die beiden Pole als Möglichkeiten." Aber meistens würden sie wohl ergänzen: "... und dazwischen ist alles möglich – wie bei mir!“
So sind Vielfalt und Bandbreite der beschriebenen Stimmen-Erlebnisse erstaunlich. Rolf Fahrenkrog-Petersen sagt zum Beispiel: „Man muss sich das in meinen Stimmenwelten so vorstellen, als würde um mich herum ein Stalking stattfinden. Auf den Straßen, in den Nachbarwohnungen, immer wird ohne Unterbrechung über mich hergezogen. Ich schlief damals nur ganz wenig. Die Stimmen kündigten an, mich in meiner Wohnung zu überfallen und mich zu entführen. Ich hielt das nicht lange aus, floh aus der Wohnung, fuhr tagelang mit der S-Bahn ... und immer wieder Psychiatrie, rein, raus. Das geht vier Jahre so.“
Barbara Schnegula hört hingegen die durchaus freundlich kommentierenden Stimmen von Papst Franziskus, von Angela Merkel und Barack Obama, aber vor allem die Stimmen zweier Jungunternehmer, die ihr den Hof machen.
Tom Seidel schreibt: „Meine Stimmen waren zuerst feindselig und sagten: 'Du weißt zu viel, wir bringen dich um.' Dann hörte ich wieder schadenfrohe Kinderstimmen, die sich über mich lustig machten, mir böse zuredeten und mich piesackten.“ Und er fügt hinzu: „Das alles war verwirrend und schwer auszuhalten.“
Cornelia Hermann wiederum erinnert sich: „Zu mir sprachen vier Stimmen, drei weibliche und eine männliche. Sie kommentierten mein Tun, was ich damals eher als angenehm empfand. Ich hatte keine Ahnung, dass das, was ich hörte, ein Symptom irgendeiner Krankheit sein könnte.“
Insgesamt findet sie es allerdings schwierig, über ihre Stimmen zu berichten, weil sie sehr flüchtig sind, „denn die Erinnerung an sie 'verpufft' wie die Erinnerung an einen Traum“.
Ingrid Krumik weiß ihrerseits nach einem Schlüsselerlebnis genau, wer zu ihr spricht – nämlich ihre Mutter, von der sie sich nie wirklich unterstützt und anerkannt gefühlt hat.
Tim Panzer berichtet: "In den tristen Tagen in meiner Wohnung sprach etwas zu mir, und ich stellte mir vor. Ich wurde bedrängt, bedroht und beschimpft. Natürlich hatte ich Angst vor unangenehmen und vielleicht sogar tödlichen Konsequenzen, wenn eine Stimme sagte: 'Dir wird etwas Schlimmes passieren.' und natürlich wollte ich die 'Eindringlinge' loswerden. Ich schrie sie an: 'Lasst mich endlich zufrieden!' und motzte richtig mit ihnen rum. Aber sie ließen sich dadurch nicht beeindrucken. Später nahmen sie auch Bezug auf vieles, was ich früher erlebt hatte, und machten mir Vorwürfe und Schuldgefühle.“
Linda R. erinnert sich an die in ihrer Schulzeit auftauchenden Stimmen, die kommentierten: „Mann, wie isst die denn?!“ oder „Ih, wie stinkt die denn aus dem Mund!“
"Ich war total verunsichert. Mir hatte doch noch nie jemand gesagt, dass ich aus dem Mund riechen würde, außerdem achtete ich ja auch besonders auf Körperhygiene. Von diesem Moment an ließen mich diese Stimmen nicht mehr los."
Vera Erden erlebte die Stimme als eine Art „Leibwächter“. "Doch woher sollte ein Leibwächter kommen? Woher kannte er mein Leben? Die Erklärung 'Verfassungsschutz mit Abhöranlagen' lag nahe. Der 'Leibwächter' wurde immer frecher, sprach auf mich ein. Die Bedrohlichkeit des Ganzen stieg. Ich fühlte mich in meiner Wohnung nicht mehr sicher und wollte ein dickes Schloss an meiner Wohnungstür haben. Der 'Leibwächter' hatte mich angeblich besucht."
Sie wählt die einleuchtende Metapher von zwei Zimmern: „Man kann sich das so vorstellen: Zwei Zimmer sind durch eine Tür getrennt, ich bin in meinem Zimmer und Elliot ist in seinem. Elliot kommt einfach durch die Tür herein, ohne anzuklopfen und redet auf mich ein. Mein Kopf ist also kein verschlossener Raum mehr, ich habe keine Privatsphäre mehr. Ich kann die Tür nicht schließen. Ich muss mit meinem ungebetenen Gast leben, und das ist anstrengend für mich. In negativen Phasen würde ich mein schlechtes 'Radio' im Kopf am liebsten abschalten können. In guten Zeiten kann es sogar lustig werden, ich kann von der Stimme profitieren. Eine gewisse Distanz zu ihr wahre ich trotzdem.“
Und Laura Vogt berichtet: „Es gibt Tage ohne Stimmen und Tage, an denen sie wie ein kosmisches Hintergrundgeräusch stets vor sich hinmurmeln, ohne dass ich ein Wort verstehen kann. Es gibt auch Zeiten, in denen ich jedes Wort verstehen kann. Die Sätze, die die Stimmen dann von sich geben, können inhaltslose Wortaneinanderreihungen sein, die keiner grammatikalischen Struktur folgen. Es gibt aber auch Sätze, die Sinn ergeben und voller Bedeutung und Gehalt, ja manchmal auch voll Poesie, sind. Meistens sprechen sie deutsch, manchmal auch Englisch oder in Sprachen, die nicht irdischer Natur sind.“

„Je nach persönlichem Gusto, eigener Lebenserfahrung und daraus resultierendem Glaubenssystem erklären sich Stimmen hörende Menschen ihre Stimmenerfahrung und insbesondere ihren Weg der Recovery/Genesung ganz unterschiedlich“, schreibt der Psychologe Elias in seinem Buchbeitrag. Und: „Was tut es da zur Sache, ob es sich bei den Stimmen gefühlt um telepathische Phänomene, Außerirdische, böse Geister, die Seelen Verstorbener, Engel oder Dämonen, Manifestationen abgespaltener unbewusster Anteile ... oder um was auch immer handelt? 'Was hilft, hat Recht' – dieses Zitat meiner geliebten (Frau) Alma muss an dieser Stelle erwähnt werden.“
Wie auch immer die Stimmen aufgetreten sind, wie auch immer sie sich äußern und persönlich erklärt werden, sie wollen offenbar individuell entschlüsselt werden. Frank Dahmen sagt: „Meine Stimmen reden in Sprachbildern, deren Bedeutung nicht sofort klar ist, sondern ein Rätsel aufgeben.“
Und Ingrid Krumiks Fazit lautet: „Ich sehe es eher so, dass das Stimmenhören wie der persönliche Fingerabdruck ist, so persönlich und individuell wie die eigene Biografie.“

Gabe und Bürde
Psychiatrische Diagnosen wie „Psychose“ oder „Schizophrenie“ stehen nicht im Vordergrund der eindrucksvollen Erlebnisberichte. Sie kommen nur gelegentlich im Zusammenhang mit gemachten – oft zwiespältigen – Psychiatrieerfahrungen vor. „Stimmenhören“ gilt zwar landläufig als Indiz und als Symptom für eine psychische Erkrankung, aber die Berichte legen nahe, dass diese „Schubladenerklärung“ zu kurz greift.
Wolfgang Harder beschreibt es für sich folgendermaßen: „Es gibt Gaben, die gefallen uns, die nehmen wir dankend an und wachsen mit ihnen, und es gibt Gaben, die gefallen uns nicht und aus denen machen wir kaum etwas. Gaben können uns ein Leben lang eine Aufgabe und eine Bürde sein. Die Stimmen kamen durch meine Neugier in mein Leben. Ich war fasziniert von der Idee, dass es jenseits meiner Sinne eine geistige Welt mit eigenen Gedanken zu mir wichtigen Fragen des Lebens gibt. Mir wurde die Möglichkeit gegeben, Stimmen hören zu können, und diese Gabe führte mich in starke Erlebnisse, in Krisen und zu neuen Erfahrungen. Sie war und ist mir aber auch eine Bürde und Aufgabe. Meine Mitmenschen fanden diese Gabe häufig weder interessant noch besonders positiv.“
Barbara Urban schätzt die Begleitung ihrer Stimmen durchaus: „Viele Menschen haben sich sehr schnell von mir zurückgezogen, als ich anfing, über meine Gefühle und Erinnerungen, über meine inneren Stimmen als Begleiter zu sprechen. So bleibt es für mich schwierig, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Und es bleibt einfacher, mit den Stimmen zu reden. Die sind ja immer da. Es gab ja auch oft keinen Menschen zum Reden.“
Andreas Gehrke schreibt direkt an seine Stimmen, die heute nicht mehr bei ihm sind: „In Wahrheit weiß ich heute sehr genau, dass ihr das Ziel hattet, meinen vorwiegend geistig exzessiven Lebenswandel zu stoppen. … Ihr kamt in einer Situation, die für meinen Körper und für mein Leben höchst kritisch war.“

In Verhandlung treten und die Suche nach der Botschaft
Christian Derflinger hat seiner Stimme den Namen Horst gegeben. „Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ihn eigentlich nicht mehr missen. Er ist im Laufe der Jahre ein 'Kumpel', ein treuer Begleiter auf meinem Weg geworden. Obwohl ich sagen muss, dass mir eine weibliche Stimme schon lieber wäre. Es ist ja tatsächlich fast so, als ob ich mit einer Frau zusammen wäre, die mich andauernd 'vollquasselt'.“
Elias geht aufgrund seiner eigenen Beratertätigkeit noch einen Schritt weiter: „Der Sinn meines Stimmenhörens ist vorrangig ein psychologischer: Jedes Wort der Stimme(n), ob konstruktiv oder destruktiv, jede Botschaft hat einen Sinn, der potenziell entschlüsselbar ist. In meiner Praxis als Berater von Stimmen hörenden Menschen erweist sich diese Annahme als hilfreich und zielführend.“
Und Laura Vogt sagt: „Jeden, der Stimmen hört, kann ich nur ermutigen: Setzt euch mit euren Stimmen auseinander, auch wenn – oder gerade weil – sie schmerzen. Begreift es als Chance, euch selbst etwas näher zu kommen und euch besser zu verstehen.“
Die einen können mit den Stimmen etwas aushandeln und Einfluss auf sie nehmen, sich von ihnen abgrenzen. Andere beschreiben in ihren Texten, dass eben genau das (noch) nicht geht.
Durchgängig wird in den Beiträgen davon berichtet, dass der Austausch mit anderen (erfahrenen) Menschen über das eigene Stimmenhör-Erleben befreiend und hilfreich war. Diese eindrücklich geschilderten Erfahrungen führen die sich hartnäckig haltende psychiatrische Lehrmeinung, es sei aussichtslos und kontraproduktiv, über die Inhalte der Stimmen zu sprechen, überzeugend ad absurdum.
Regina Hildegard fasst ihre Erfahrungen wie folgt zusammen: „Stimmen wollen ernst genommen werden. Teils kann man sie 'erziehen' wie kleine Kinder. Die positiven Stimmen sind oftmals sehr gute Ratgeber und sind uns auch überlegen. ... Mir wurde durch meine Weiterbildungen zum Thema Stimmenhören klar, warum mich meine Stimmen gut behandeln. Sie wurden von mir immer akzeptiert und angenommen. Ich habe ihnen den Raum in meinem Leben gegeben, den sie brauchten, um mich durch Anfangsschwierigkeiten, Missverständnisse und Verständigungsprobleme hindurch zu einem konstruktiven Gespräch zu führen. Mit Stimmen zu kommunizieren ist vergleichbar mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Spreche ich diese, wird erst ein wirklicher Kontakt und Austausch möglich. Grundsätzlich gilt, dass man Stimmen wie Menschen behandeln kann und daher für den täglichen zwischenmenschlichen Umgang viel lernt.“
Und auch sie fügt hinzu: „In allen Fällen gilt, dass es immer Ausnahmen gibt. Man kann hier nicht verallgemeinern.“
Es bleibt also dabei: Das Stimmenhören gibt es nicht. Diese Erfahrung ist und bleibt individuell und „vielstimmig“. Die Berichte ermutigen zur „Kontaktaufnahme“ mit den inneren Stimmen, zur Auseinandersetzung, Kommunikation und Reflexion. Und die Autorinnen und Autoren appellieren damit auch an alle, die sich beruflich mit Stimmen hörenden Menschen beschäftigen: Bitte hört uns zu!
Eine wunderbare Zusammenfassung all der beschriebenen besonderen Erfahrungen ist das abschließende Gedicht einer Stimmenhörerin:

Liebe ist die Antwort

Wir (Stimmen) sagen dir oft nichts über uns
Und doch kannst du uns hinter unseren Worten erkennen
Nimm die Worte nicht wörtlich, aber verstehe, was sie beabsichtigen
Wir geben dir vieles über uns und über dich selbst zu verstehen
Verachte uns nicht, sondern höre mit dem Herzen, was wir dir sagen wollen
Begegne dir und uns mit verständnisvoller Liebe
Überbrücke Angst mit Vertrauen
Schließe Frieden mit uns und bewahre ihn
Lebe und liebe dein ureigenes Leben
Das ist unsere Botschaft für dich

C. Nissen

 

© Hartwig Hansen

Erschienen in: Treffpunkte – Zeitschrift für Gemeindepsychiatrie,
Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt/Main 3/2016